Der Meeresbiologe Gabriel Morey erforscht seit 25 Jahren Haie und Rochen rund um die Baleareninseln. In all der Zeit hatte er in dort nur eine einzige Begegnung mit einem größeren Hai. Aber vor ein paar Jahrzehnten hätte das noch ganz anders ausgesehen. In dieser “Meer Wissen”-Folge tauchen wir ab in eine Zeit, in der „Salroigs“ (ibizenkisch für „Weißer Hai“) und andere große Räuber hier das Meer durchstreiften – auf der Jagd nach Mönchsrobben. All zu lange ist das nicht her. Was ist passiert?
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Große Haie waren den Fischern rund um die Inseln früher nicht fremd. Sie hatten Respekt vor ihnen, doch "der Mythos 'Weißer Hai' wurde erst viel später mit dem gleichnamigen Film geboren." - Gabriel Morey
Manch betagter Fischer erinnert sich vielleicht noch an die Zeiten, in denen es nichts Ungewöhnliches war, wenn neben dem Fischerboot plötzlich eine große Haifinne aus dem Wasser ragte. Den Weißen Hai nannten die Fischer katalanisch „Salroig“. Laut Biologe Gabriel Morey, genannt „Biel“, war er hier keine Seltenheit. Und auch kein Grund zur Panik. Er gehörte einfach zum Meer dazu. „Die Menschen hatten zwar Respekt vor ihm, aber der Mythos ‘Weißer Hai’ wurde erst viel später mit dem gleichnamigen Film geboren.“ Um mehr über die Vergangenheit der Räuber um die Inseln herauszufinden, durchforstete Biel alte Bücher und Dokumente: „Auf diese Weise stießen wir auf 27 Begegnungen mit Weißen Haien zwischen 1920 und 1976, das war auch der letzte Fang eines großen Weißen auf den Balearen. Und in den historischen Jahren zuvor gab es noch viel mehr Sichtungen.“
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In diesem Zeitungsausschnit aus dem “Diario de Ibiza” von 1905 wird von einem dicken Fang berichtet: Neben 58 Thunfischen vor Formentera ging den Fischern ein rund 650 Kilo schwerer Weißer Hai vor Andratx, Mallorca, ins Netz. Er wurde zum Verzehr nach Barcelona verschifft. Laut Biel entspricht das etwa einem 4-Meter-Hai. Weiße Haie wurden früher im Mittelmeer gefangen und gegessen, bevor sie unter Schutz gestellt wurden. Foto @Arxiu Hístoric d'Eivissa Diario S. 2 vom 9. Januar 1905
Einst sonnten sich Robben auf Es Vedrà
Die großen Raubfische hatten ein reiches Nahrungsangebot, etwa an Thunfischen – und Robben. Denn die Inseln waren auch das Zuhause der knapp drei Meter großen Mittelmeer-Mönchsrobben (Spanisch „Foca monje“, Katalanisch „Vell Marí“). Vor nicht allzu langer Zeit sonnten sie sich hier auf Felsen, robbten die Buchten entlang und glitten auf der Jagd nach Fischen durchs Wasser. Ihre Jungen brachten sie in Felsenhöhlen zur Welt. Auf Ibiza tummelten sich die Vell Marís unter anderem auf Es Vedrà oder bei Ses Salines. Leider endete die Begegnung mit Menschen für die Tiere meist tödlich, denn die Fischer sahen in ihnen nichts als eine lästige Konkurrenz, die ihnen die Beute wegfraß und die Netze plünderte.
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Hey, Sweet! Solche Aufnahmen neugieriger Mönchsrobben sind heute wahre Raritäten. Foto @Ed Lyman/NOAA
Auf Robben wurde früher sogar Kopfgeld ausgesetzt. Selbst die wohl letzte Mönchsrobbe der Balearen wurde im Jahr 1958 von der Guardia Civil vor der Cala Tuent (Mallorca) erschossen. Abgesehen vom „Sommerurlaub“ einer einzelnen Mönchsrobbe auf Mallorca im Jahr 2008 kamen die Tiere nicht mehr zurück. Insgesamt gibt es heute nur noch rund 400 Mittelmeer-Mönchsrobben. Die Jahrhunderte lange Jagd auf ihr Fell, Fleisch und Fett sowie zahlreiche Umweltfaktoren brachten sie an den Rand des Aussterbens. Die letzten ihrer Art leben noch vor Griechenland, Marokko, Tunesien oder dem Madeira-Archipel.
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Das Foto zeigt die wohl letzte "Vell Marí" (Mönchsrobbe), die im Jahr 1958 von der Guardia Civil vor Mallorca erschossen wurde. Foto @ Museu d'Història de Manacor, Mallorca
Hai-Bestände sanken im Mittelmeer um 95 Prozent
Im Gegensatz zu den Vell Marís gibt es noch vereinzelt große Haie vor den Inseln. Doch ihr Bestand schrumpfte laut Biel bereits zur Mitte des 20. Jahrhunderts hin stark – und in den vergangenen Jahrzehnten schließlich um 95 Prozent. „Haie sind zwar weltweit bedroht, doch das Mittelmeer bietet für sie das schlimmste Szenario. Hier gingen ihre Bestände am meisten zurück.“ Der Hauptgrund dafür ist laut Biel die Überfischung. Nicht nur, dass die Raubfische aufgrund des exzessiven Fischfangs immer weniger Nahrung vorfinden – sämtliche Hai-Arten verenden massenhaft in den Langleinen an der Oberfläche und den riesigen Schleppnetzen, die den Meeresgrund binnen Minuten in eine leblose Wüste verwandeln. Manche großen Arten wie der Hammerhai verschwanden schon komplett aus den balearischen Gewässern. Auch der rochenähnliche, am Boden lebende Engelhai wurde seit Jahrzehnten nicht mehr gesichtet. „Weiße Haie gibt es hier noch immer, nur eben viel seltener als früher“, weiß Biel. Beweise dafür sind nicht nur gelegentliche Sichtungen: „Etwa 15 Prozent der hier angespülten Kadaver von Schildkröten, Delfinen und Walen weisen Spuren von Haibissen auf. Einige dieser Bisse sind von Weißen Haien.“
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Gabriel Morey setzt sich für den Schutz der Haie und Rochen im Mittelmeer ein. Er arbeitet unter anderem im Auftrag der Balearen-Regierung, indem er gemeinsam mit anderen Forschenden den Rückgang der Arten in den hiesigen Gewässern untersucht. Hierfür taucht er oft ab, um Meeresbewohner zu zählen. Er würde gern viel öfters seinen Schützlingen, den Haien, begegnen.
Jäger wurden zu Gejagten
Große, wendige Raubtiere mit spitzen Zähnen und scharfen Sinnen – die Furcht vor Haien ist eine menschliche Urangst. Laut dem Hai-Experten ist sie rund um die Balearen aber unbegründet. Hier leben noch rund 30 Hai-Arten, „aber der Großteil davon sind kleinere Tiere, die wir gar nicht als Haie wahrnehmen würden.“ Selbst die meisten großen Arten brauchen wir Menschen nicht fürchten. Biel wäre sogar äußerst neidisch, wenn du einem großen Räuber begegnest – ihm war das in einem Viertel Jahrhundert Forschungstauchen hier nämlich nur ein einziges Mal vergönnt. Die Begegnung mit einem Blauhai beschreibt er als einen der schönsten Momente seiner Karriere. „Falls man auf den Balearen einem großen Hai begegnet, handelt es sich meistens um einen Blauhai. Von ihm geht für den Menschen eigentlich keine Gefahr aus.“ Laut Biel ranken sich um den eleganten blauen Raubfisch zwar so manche Mythen, aber er hält es für „sehr unwahrscheinlich, dass er einen Menschen attackiert.“ Eine Begegnung mit dem rund fünf Meter großen Stumpfnasen-Sechskiemerhai würde an eine Sensation grenzen, denn der mysteriöse Meeresbewohner bevölkert Zonen bis zu 2.500 Meter Tiefe und bleibt selbst für die Wissenschaft ein weitgehend unerforschtes Phantom. Manchmal macht der bis zu acht Meter lange Riesenhai vor den Inseln Station. Er sieht mit seinem großen Maul zwar gefährlich aus, ist aber ein friedlicher Planktonfresser – und nach dem bis zu 10 Meter großen Walhai der größte Fisch der Welt. Kommt doch mal einer der zwei potenziell gefährlichen Räuber wie der große Weiße oder der Mako (übrigens der schnellste Hai der Welt) in hiesigen Gewässern vorbei, rät Biel, dem Tier unter Wasser in die Augen zu sehen und möglichst ruhig und ohne hektische Bewegungen das Meer zu verlassen.
„In all den vergangenen Jahrhunderten bis heute gibt es auf den Balearen keinen einzigen dokumentierten Haiangriff auf Menschen.“ - Gabriel Morey
Hier noch ein paar Fakten gegen Angst vor Haien...
Durch uns Menschen verenden jährlich geschätzt 100 Millionen Haie.
Es sterben weitaus mehr Menschen durch Hunde als durch Haie, nämlich im Schnitt rund 20.000 weltweit im Jahr. Das liegt daran, dass Hunde in vielen Ländern mit der tödlichen Tollwut-Krankheit infiziert sind.
Und noch ein Vergleich: Rund 150 Menschen werden pro Jahr von einer Kokosnuss erschlagen.
Wegen Haiangriffen aber sterben jährlich weltweit im Schnitt nur fünf bis sechs Menschen.
Menschenblut lockt Haie an? Zahlreiche wissenschaftliche Tests zeigten, dass sich Haie gar nicht für unser Blut interessieren, denn wir passen biologisch nicht in ihr Beuteschema.
Gefährliche Haie, süße Delfine? Das lehrten uns Filme wie „Der Weiße Hai“ und „Flipper.“ Forschende aber fanden heraus: Delfine töten teilweise zum Spaß und reichen zum Beispiel wehrlose Kugelfische wegen ihres halluzinogenen Giftes herum wie einen Joint. Außerdem lieben Delfine Sex – und zwar so sehr, dass sie notfalls andere (teils tote!) Tiere oder die Atemlöcher ihrer männlichen Artgenossen begatten, wenn mal kein Weibchen da ist. Sogar Übergriffe auf Menschen sind dokumentiert.
Dieser Artikel erschien im Jahr 2022 in der März-Ausgabe des Monatsmagazins Ibiza Live Report. Fotos: Gabriel Morey, Historisches Archiv Ibiza, Unsplash.com, Pixabay.com